Die Tatort-Reihe ist aus der Sommerpause zurückgekehrt, wie man so hört, mit einer Folge mit einer Portion Science-Fiction. Viele haben ihn gesehen, ich jedoch nicht, kann mir aber nicht vorstellen, dass die öffentlich-rechtlichen Schreiberlinge da etwas logisches zusammengebastelt haben. Ich habe eine Reise in die Vergangenheit unternommen zu Kommissar Haferkamp aus Essen.
Heinz Haferkamp stellt einen jungen Kommissar dar. Er ist zwar geschieden, doch versteht sich ziemlich gut mit seiner Exfrau, so gut sogar, dass er sie in bis jetzt jedem Fall einmal zu Rate zog. Außerdem hat er eine Vorliebe für Alt und kalte Frikadellen, scheinbar ein angesagter Snack in Essener Kneipen. Letzterer Charakterzug ist übrigens auf dem Mist des Schauspielers Hansjörg Felmy ganz alleine gewachsen.
Es beginnt der Tatort damit, dass Evelyn Stürznickel ihre Stieftochter Angela mit Tabletten versorgt und ins Bett steckt um die angebliche Grippe auszukurieren. Später in der Nacht schleicht Evelyn mit gezückter Waffe die Treppe herunter, offenkundig weil sie den Einbrecher im Wohnzimmer gehört hat. Dieser begutachtet die Leiche von Frau Stürznickels Schwiegervater, der erschlagen wurde, und nur wenige Augenblicke später macht er die Bekanntschaft mit drei Pistolenkugeln.
Die Polizei wird also angerufen, und kommt unter anderem in Form von Kommissar Haferkamp angerückt. Haferkamp stutzt schon ein wenig, dass Angela überhaupt nichts von den Schüssen gehört hat, bzw. so starke Tabletten bekommen hatte, dass sie nicht aufwachte.
An dieser Stelle befürchtete ich schon, dass die nächsten 75 Minuten damit verbracht werden, diesen eigentlich offensichtlichen Mord (zumal für einen Zuschauer aus heutiger Zeit, der im Schnitt schon eine Menge Krimis gesehen hat) aufzuklären. Glücklicherweise ist dem nicht so. Nach ein paar Gesprächen im Umfeld des Einbrechers, in denen sich herauskristallisiert, dass dieser ein Verhältnis mit Frau Stürznickel hatte, glaubt Haferkamp genügend Indizien gegen die Schwiegerwitwe in der Hand zu haben. Offenbar auch die Staatsanwaltschaft, und so kommt es zur Verhandlung. Frau Stürznickel jedoch hat mit Dr. Alexander einen der besten Strafverteidiger zur Hand, der zwar der beste Freund des Verstorbenen war, und auch selber schon die ein oder andere Verdächtigung hat, was dessen Todesumstände betreffen, aber er erklärt sich bereit, den Fall zu übernehmen, unter der Voraussetzung, dass er sein Mandat sofort niederlege, wenn er Beweise dafür bekäme, dass Evelyn etwas mit dem Mord zu tun hat.
Vor Gericht nimmt Dr. Alexander die Anklage auseinander. Er beschuldigt Kommissar Haferkamp, die Angeklagte nur deswegen festgenommen zu haben, weil ihre sexuellen Aktivitäten (neben dem Einbrecher hat sie noch eine Affäre mit einem Tierarzt) nicht in sein spießiges Weltbild passen würden. Die Folge ist der Freispruch. Haferkamp ist geknickt, auch weil seine Meinung von ihm selbst etwas erschüttert wurde. Glücklicherweise kann ihn seine Exfrau etwas aufbauen.
Nach dem Prozess hat der Strafverteidiger Alexander noch eine kurze Unterhaltung mit Angela. Angela möchte ihr Erbe nicht, sondern es wäre ihr lieber, wenn ihre Mutter das Geld bekäme. Zeitgleich flashbackt sie immer wieder zur Mordszene. Offensichtlich war sie gar nicht so betäubt, wie sie allem und jedem weismachen wollte, sondern hat mit angesehen, wie ihre Stiefmutter ihren Großvater umgebracht hatte. Dennoch erzählt sie dem Anwalt nichts davon, sondern verdrückt sich lieber nach Hause. Dort schreibt sie irgendwas und entlässt ihren Vogel aus dem Käfig in die Freiheit.
Eines Tages im Präsidium gönnt sich Haferkamp gerade eine kleine Mahlzeit, als ein Anruf kommt. Angela ist verschwunden, während Evelyn Stürznickel mit dem Tierarzt Kürschner das Wochenende in ihrem Haus am See verbrachten. Noch bevor die Suche wirklich in Gang kommt wird Angelas Leiche aus dem See gefischt. Von da an geht es schnell, Schlag auf Schlag werden immer mehr Hinweise gefunden, die alle auf Evelyn Stürznickel als Täterin deuten und Dr. Kürschner mindestens las Mitwisser. Beide werden also verhaftet, was zu einigen wirklich gelungenen Tiraden Kürschners führt, in denen er sich über das ungerechte Rechtssystem beschwert.
Haferkamp geht der Fall nicht mehr aus dem Kopf, vor allem die Amsel. Zudem die Tatsache, dass Evelyn ihre Stieftochter sehr zugetan war und ihr eigentlich nie etwas angetan hätte, jedenfalls interpretiert er das aus dem Briefverkehr. Letztendlich fällt der Groschen erst, als der Prozess schon im vollen Gange ist. Haferkamp holt sich einen Durchsuchungsbefehl für Dr. Alexander, der wieder die olle Stürznickel verteidigt. Er gibt sich aber verdächtig wenig Mühe. So ist es dann auch kein Wunder, das die beiden Angeklagten verurteilt werden.
Nach Prozessende sitzt der Anwalt ganz alleine im Saal und sammelt seine Unterlagen zusammen, als Haferkamp eintritt, nicht nur mit der Anschuldigung, Dr. Alexander hätte Angelas selbstgemordete Leiche gefunden und sie benutzt, um ihrer Stiefmutter einen Mord anzuhängen, sondern auch mit dem Abschiedsbrief Angelas, der in der Kanzlei des Anwalts versteckt war, und ebenso mit einem Zeugen, der gesehen hat, wer die Tote im See versenkte.
Und am Ende holt Haferkamp den unschuldig verurteilten Kürschner noch höchstpersönlich vom Gefängnis ab. Was genau jetzt mit Evelyn Stürznickel passiert, das bleibt dem Zuschauer vorenthalten.
„Die Abrechnung“ hat mir anfangs wirklich Sorgen gemacht, weil ich dachte, das wird so ein Larifari-Fall, bei dem der Zuschauer nach 10 Minuten schon den Fall durchschaut. Zumal ja schon mit „Wodka Bitter-Lemon“ ein Haferkamp-Tatort einer war, der dieser Kategorie entsprach. Glücklicherweise hat sich das als unbegründet erwiesen. So wird man als Zuschauer durch den ersten Prozess selbst in seinem Urteil verunsichert. Das mag 1975 sogar noch viel besser auf die Menschen vor dem Bildschirm gewirkt haben, vor allem, wenn man sich selber auch den Anschuldigungen an sexuelles Spießertum stellen muss (die Verteidigung Dr. Alexanders). Es ist allerdings sehr schade, dass sich der Film nicht zutraut, diese Unsicherheit noch eine Weile aufrechtzuerhalten und stattdessen Angelas Erinnerungen zeigt. Die zweite Hälfte macht ein größeres Geheimnis um den Täter, bzw. den Tathergang. Am unterhaltsamsten sind dann aber die Auseinandersetzungen zwischen Haferkamp und Dr. Kürschner, besser gesagt, Kürschners Monologe, wie er gegen das Justizsystem wettert und gegen die Ermittlungsart ist herrlich anzusehen.
Als optische Besonderheit bietet „Die Abrechnung“ einige hübsche Überblendungen (also von einer Szene zur nächsten), etwas, das man nicht unbedingt erwartet und die ansonsten konventionelle Arbeitsweise erfreulich auflockert.
Einige Kuriositäten gibt es auch noch zu bestaunen. So erscheint mir eine Amsel als Haustier doch recht ungewöhnlich, oder, dass der Kommissar mit Frau Stürznickel gemeinsam in deren Auto zur Identifizierung der Stieftochter fährt. Weniger kurios als viel mehr tragisch ist die Geschichte der Mutter des erschossenen Einbrechers, die im und nach dem Krieg einen Sohn nach dem anderen verloren hatte.
Hansjörg Felmy spielt seinen Kommissar routiniert. Das ist durchaus nicht negativ gemeint. Kein Wunder, dass er zu den beliebtesten Ermittlern gehört.
Maria Schell wirkt sehr gekünstelt. Zunächst hielt ich es für Absicht, da ihre Rolle ja eine falsche Aussage vorzutragen hatte. Aber das gibt sich auch im weiteren Verlauf leider nicht. Ich würde ihr eher zutrauen, ihre Stieftochter tatsächlich umgebracht zu haben, als nicht in der Lage dazu gewesen zu sein. Mit ihren vielen Rollen (unter anderem eine kleinere Rolle im Superman von 1978) und Auszeichnungen vermute ich, dass sie überzeugender sein konnte, wenn sie mochte.
Romuald Pekny ist ein überzeugender Rechtsverdreher und verliert sein beherrschtes Äußeres auch erst, als Haferkamp ihn enttarnt. Er war abseits der Theaterbühne in einer Vielzahl von Fernsehfilmen zu sehen, unter Anderem auch in „Das Biest im Bodensee“, den ich damals tatsächlich im Fernsehen gesehen habe. Ich glaube der Film war eher albern.
Zu Rolf Becker habe ich ja schon viel Positives von mir gegeben. Sein Tierarzt ist sehr sehenswert. Man kann ihn in unzähligen TV-Filmen bewundern. Wenn man ihn hier so sieht, weiß man, woher Ben Becker seine Begabung hat. Wie der Vater so der Sohn.
Irina Wanka, die junge Angela, tritt nicht nur bis heute in Filmen auf, sondern synchronisierte schon so einige Größen, zum Beispiel Sophie Marceau in „LOL“ oder Charlotte Gainsbourg u.A. in „Antichrist“. Hier wirkt sie sehr teilnahmslos, aber dafür ist sie ja auch nicht die ganze Zeit dabei. Kleine Anmerkung für Leute mit seltsamen Geschmack, ihre Leiche zieht blank, öhm…
Der Tatort „Die Abrechnung“ hat womöglich einen etwas schleppenden Anfang, aber schon mit dem Prozessbeginn nach 15 Minuten zieht der Unterhaltungsgrad an. Ein Vertreter der Reihe, der sicherlich auch heute noch sein Publikum finden würde. Manchmal jedoch wirkt es, als würden die Figuren ihren Einsatz vermasseln. Das ist aber ein Eindruck, den viele der alten Tatorts erwecken, wenn jemand mitten im Satz von jemand anderem unterbrochen wird. Vielleicht ist das aber auch Absicht, das lässt sich kaum klären.